Beitrag von Solveig Hoffmann. Ärztin und Master Teacher der CANTIENICA®-Methode
In der Zeitschrift raum&zeit erschien in der Ausgabe 198 (Nov/Dez 2015) ein Artikel über die CANTIENICA®-Methode. Der hier gepostete Text ist mein Original-Text, der als Grundlage für den Artikel diente. Er unterscheidet sich in einiger Hinsicht von dem Artikel in der Zeitschrift. Andrea Tresch, ebenfalls Master Teacher der CANTIENICA®-Methode, hat den Text vor dem Einreichen beim Verlag gelesen und durch einige Hinweise aufgewertet. Vielen Dank!
Revolutionäre Bewegungsmethode
CANTIENICA® Körper in Evolution ist eine zeitgemässe und in vieler Hinsicht (r)evolutionäre Bewegungsmethode. Begründet und bis zum heutigen Tag ständig weiter entwickelt von Benita Cantieni aus Zürich; als Methode eingetragen seit 1997.
Aus eigenen gesundheitlichen Gründen sammelte B. Cantieni Jahrzehnte lang Erfahrung in verschiedensten Bewegungsmethoden und einigen manuellen Therapieformen. Sie beschreibt ihre Geschichte lebendig in ihrem Buch: Catpower (Verlag Südwest). Ihre feine Innenwahrnehmung zeigte ihr allmählich eigene Wege. Manchmal im Widerspruch zu therapeutischen Lehrmeinungen. Sorgfältig ausprobiert im Kreise von Freunden und Mitarbeitern wurde aus der eigenen Wahrnehmung eine systematische und lehrbare Methode.
Die Hinweise auf Körperform und Haltung mögen manchen erst überraschen. Doch Bewegung, Körperform und Haltung stehen in direktem Zusammenhang. Wer mit der Methode trainiert, macht in allen drei Bereichen Fortschritte. Und alle drei wirken sich aus auf Wohlbefinden, Gesundheit, Lebensfreude.
Es geht um die gute Position aller Knochen zueinander, um das Freihalten der einzelnen Gelenkflächen, um die Aktivierung der knochennahen Tiefenmuskulatur. In den Übungen werden Positionen präzise eingenommen und mit minimalsten Bewegungen Raum und Weite kreiert. Natürlich können Bewegungen/Positionen nicht neu erfunden werden, doch die sehr spezielle Exaktheit im Detail ist meist unbekannt. Hier zeigt sich der Schwerpunkt: Die Knochen auseinanderhalten, sich nirgends verkürzen, Atemreisen zur gezielten Muskelvernetzung. Es gibt sehr kleine sogar ultra kleine Bewegungen, pulsierende Mikrobewegungen. Manch Anfänger sagt bei gewissen Aufforderungen: das ist doch gar nichts, ich mache nichts, ich stelle mir das nur vor. Zum Beispiel im guten aufgerichteten Sitzen auf einem Stuhl eine Kniekehle nach vorne dehnen und die gleichseitige Leiste nach hinten.
Gute Haltung mit gesunder Bewegung kann in Alltagsgewohnheiten übergehen. Elastische Stabilität in jeder Lebenslage, bei jeder Tätigkeit können daraus folgen. CANTIENICA®-Training ist Training und es ist wie eine „Gebrauchsanweisung für den eigenen Körper“ (B. Cantieni).
„ich hab eine schlechte Haltung“. Diese Meinung haben viele Menschen über sich. Es klingt manchmal wie ein Stempel fürs ganze Leben. Ein 49 jähriger Mann lebte seit seiner Jugend mit dieser Selbstdefinition. Seine Wirbel und seine Schulterknochen seien daran schuld. Seine seelische Stimmung beugte sich im Laufe der Jahre wie sein Rücken. Als er lernte, seine Vorderfront gerade zu halten, das Brustbein hoch zu ziehen, die Bauchmuskeln gedehnt zu kräftigen, wurde sein Rücken entlastet, aufrecht und schmerzfrei. Er fand es gar nicht mehr schwer. Die Freude darüber, den Stempel der schlechten Haltung abzulegen, strahlte zunehmen aus seinem Gesicht. Glück pur nannte er es.
Die Unzufriedenheit mit der eigenen Körperform ist das andere wichtige Thema. Zu dicke Oberschenkel, zu flacher Po, keine Taille, zu langer oder zu kurzer Hals. Die Palette der Unzufriedenheitsangebote ist unendlich gross. Wer sich aufrichtet, wer sich dehnt und gedehnt bewegt und das immer mehr zur Gewohnheit werden lässt, harmonisiert seine Körperform. Zum äusseren aufrichten kommt das innere dazu. Die Bejahung des eigenen Körpers ist ein Schritt zur Zufriedenheit. Meist schon nach einer Stunde mehr Gefallen finden am eigenen Körper, motiviert enorm zum weiter machen.
Als Benita Cantieni 2014 von Ruanda zurück kehrte und dort die anmutigen, aufrechten jungen Mädchen gesehen hatte, schrieb sie: sie brauchen alles, nur kein CANTIENICA®. Wir – jeder von uns auf seine Weise – haben uns durch Sozialisation, eigene traumatische Erlebnisse und Manipulation von der einmal in uns angelegten gesunden Bewegungsnatur abbringen lassen. Doch das muss keine Einbahnstrasse sein. Bewegung im Sinne des „Bauplanes des Körpers“ kann vieles wieder gut machen. Und in jedem Alter! Allerdings, der gute Wille allein reicht nicht. Konsequenz im Üben ist Vorraussetzung.
Hier in diesem Artikel können nur einige Prinzipien vorgestellt werden. Es gibt eine ganze Reihe Übungsbücher von B. Cantieni und es gibt ausgebildete Instrukorinnen und Instruktoren.
„Tigerfeeling“
Alle aktuellen Übungs-Bücher von B. Cantieni haben das im Titel. Geschmeidigkeit beim gehen, rennen, Treppe steigen, Garten arbeiten, – elastische Bewegungen und gefühlte Leichtigkeit werden damit assoziiert.
Grundlegende Prinzipien der Methode sind das aufgerichtete Becken, der aktivierte Beckenboden, die aufgespannte Wirbelsäule, die Vernetzung des gesamten Muskelsystems. Wenn das Becken gekippt gehalten wird, sind die Übungen nur begrenzt effektiv.
Aufgerichtet meint, im Stand die Sitzhöcker nach unten, Richtung Fersen, orientieren.
Der nächste Schritt ist die bewusste Aktivierung der innersten Beckenbodenschicht. Diese trägt in der Lehranatomie den Namen musculus levator ani. Er wird hier kurz der Levator genannt. Er ist eben der Erleichterer in jeder Hinsicht. Es gibt in der Methode verschiedene Arten, ihn zu aktivieren, je nach persönlicher Herausforderung.
Zum Punkt Aufspannung der Wirbelsäule: Aufspannung geht in zwei Richtungen. Im Stehen das Becken so aufrichten, dass die Sitzhöcker Richtung Fersen schauen und den Kronenpunkt des Kopfes wie zur Zimmerdecke bzw. zum Himmel hoch denken. Dann ist die Wirbelsäule auseinander gezogen und wird im Lauf der Zeit immer gerader. Die ausgeprägte S-Kurve der Anatomieatlanten hat die Aktivität der kleinen ortständigen Rückenmuskeln vernachlässigt.
Aufspannung braucht einen leichten pulsierenden Tonus der knochennahen Muskeln und der sie vernetzenden Faszien. Mancher findet das am Anfang ungemütlich. Doch nach kurzer Übungszeit wird diese Aufspannung zum Bedürfnis. Schlapp in sich zusammen sinken aus alter Gewohnheit passiert noch ab und an, doch das Bewegungssystem meldet sich mit der Aufforderung: sei gut zu mir und richte Dich auf. Nach einer kurzen Phase des neu Lernens will der Körper es so, weil dies innewohnend ist und im Bauplan vorgesehen. Der Energieaufwand geht Richtung null. Beziehungsweise eine Energiezunahme ist eine der vielen angenehmen Nebenwirkungen dieser Art, sich zu bewegen.
Wenn die drei zusammen wirken, aufgerichtetes Becken, aktiver Levator und Aufspannung der Wirbelsäule, sind Bauch- und Rückenmuskeln aktiv, der Leib streckt sich. Es kommt oft zu einer messbaren Grössenzunahme des ganzen Körpers. Der Abstand der Wirbel zu einander dehnt sich, die Bandscheiben haben den nötigen Platz und sind so flexibel, elastisch, formbeständig. Die Muskeln sind vernetzt.
Aufspannung geht nur mit Muskelvernetzung. In der Methode wird grosser Wert darauf gelegt, nicht lokal zu arbeiten. Nicht einen Muskel aufzutrainieren oder ein Gelenk beweglich zu machen. Es geht immer um das Ganze. Auch bei Gesichtsübungen oder in einer Fusslektion. Fussübungen ausgeführt in optimierter Körperhaltung haben eine ganz andere Wirkung als wenn nur der Fuß Beachtung findet. Jede Übung ist eine Ganzkörperübung.
Natürlich können bestimmte Bereiche besonders fokussiert werden. Aber sie stehen immer im Zusammenhang mit dem Ganzen. Ganzheitliches Beckenbodentraining bezieht die Stellung der Beckenknochen für die gute Funktion des Beckenbodens und die Reduzierung des Druckes von oben immer mit ein. Dadurch ist eine erlebbare Besserung der heute so verbreiteten Beckenbodenschwäche mit all ihren Nachteilen für Füsse, Beine, Rücken, Unterleibsorgane erreichbar.
Benita Cantieni bezeichnet die innere Beckenbodenschicht gerne als „wichtiges Zwischenstockwerk im Hochhaus Mensch“. Das Zwerchfell – sozusagen ein Stockwerk höher – nimmt sie gleichrangig dazu. Das Zwerchfell sorgt, wenn es gedehnt aktiviert ist, auch für das Auseinanderhalten von Brustkorb und Becken, und es stabilisiert mit seinen kräftigen Muskelschenkeln die Lendenwirbelsäule. Daraus ergibt sich selbstverständlich, dass auch die Art wie wir atmen eine grosse Rolle spielt für die aufrechte Haltung. Das sehr kräftige Zwerchfell in der radialen Aufspannung gibt Halt beim Ein- und Ausatmen. Der Brustkorb und die Flanken dehnen sich beim Einatmen zu den Seiten, alle Rippengelenke sind bei jedem Atemzug bewegt. Ein aufgerichteter sich elastisch bewegender Brustkorb will dann gar nicht mehr nach unten sinken.
Beim aufgespannten Stehen sind die Schwerpunkte von Becken, Brustkorb und Kopf in einer senkrechten Linie übereinander. Das Gewicht auf den Fersen, der Vorfuss ist frei. Das ist sehr ungewohnt. Am Anfang denkt jeder, er falle nach hinten um. Diese Haltung im Stand aktiviert automatisch die Bauchmuskeln in die Länge nach oben Richtung Brustkorb. Die gesamte Tiefenmuskulatur ist aktiv, alle Muskeln vernetzt, alle Knochen auseinandergehalten. Aktive Entspannung – Entspannte Aktivität lautet die Zauberformel. Wer sich an die leichte Muskelvibration gewöhnt hat, fühlt sich immer leichter, schwereloser, freier.
Alles verbindend ist der gesunde Kreuzgang. Er bewegt und befreit bei jedem Schritt alle Gelenke des Rumpfes. Die Brustwirbelsäule schwingt frei um ihre eigene Achse von ihrer ortständigen Muskulatur gestützt. Sie bleibt weder starr noch wird sie von aussen herum gezogen. So dreht, wenn das rechte Bein nach vorne kommt, die Brustwirbelsäule nach rechts und nimmt die linke Schulter vor.
Seit einigen Jahren tut sich viel Neues in der Bewegungsforschung. Inzwischen ist klar, dass das Bindegewebe bzw. die Faszien kein nebensächliches Füllgewebe ist. Die Erkenntnis, dass sich hier Bewegungsenergie speichern kann, die dann für grosse Sprünge oder federndes Bewegen wieder frei gegeben wird, war wie ein Durchbruch. Das Bindegewebe vernetzt im Körper alles mit allem, überträgt Bewegungsimpulse über weite Strecken auf den ganzen Körper, durchdringt in feiner spezifischer Weise Knochen, Organe, Haut, natürlich Muskeln, Knochen und Knorpel. Auch das Gehirn könnte ohne dieses stützende nährende und Information speichernde Gewebe nicht arbeiten. So wird diese Forschung im Laufe der nächsten Jahre Antworten finden, warum es möglich ist, fast unabhängig vom Alter eines Menschen, Knochen umzubauen, Bewegungsgewohnheiten zu ändern, einzelne Muskeln zu einem sinnvollen Arbeitsteam neu zu vernetzen. Wie schon erwähnt, spricht B. Cantieni viel von der Vernetzung grössere Muskelzüge. Im Hinblick auf die Faszien-Forschung sagte sie: ich wusste es immer, dass es die Faszien sind.
Die CANTIENICA®-Methode wird in Studios in Gruppen trainiert. Die Gruppen sind eher klein. Die Instruktorin/ der Instruktor hilft, wenn jemand nicht mitkommt und geht zu jedem Teilnehmer, um mit klaren Coaching-Griffen die jeweilige Übung zu optimieren.
In Einzelstunden kann sehr individuell auf spezielle Herausforderungen oder Wünsche eingegangen werden. Alte Vorurteile sich selbst gegenüber werden angeschaut und gemeinsam ein Weg gesucht, sich über sie hinweg zu bewegen.
Natürlich hat die Methode ihre Grenzen. Es kann das erreicht werden, was umbaufähig und regenerierbar ist. Das ist viel viel mehr als allgemein behauptet wird. Zum Beispiel können Arthrosen rückläufig sein, ein Rundrücken sich aufrichten, ein deformiertes Fußskelett sich wieder sortieren.
Die Art und Weise sich zu bewegen hängt auch von der inneren Einstellung ab. Umgekehrt auch. Vorstellungen und innere Bilder haben eine grosse Wirkung. Wir haben da einen Freiheitsmoment, der ergriffen werden will: Eigenverantwortung statt Abhängigkeit. Die vernetzende Kraft aus der eigenen Mitte einsetzen in allen Bereichen. Präsent sein und offen, kraftvoll und frei für Bewegung in alle Richtungen. Körperlich, seelisch, gedanklich, sozial. Heimatgefühl im eigenen Körper und in der Welt.